Homepage  Kontakt  E-Mail 


wenn die landschaft aufhört

© dieter sperl, 1999
singuläres, zufallsgeneriertes sampling aus 45! kombinationsmöglichkeiten

konzept: paul pechmann und dieter sperl



© helmut leitner software, 2000

produziert im rahmen der steirischen landesausstellung comm.gr2000az
schloß eggenberg, 5. mai - 26. oktober 2000



Zum Literatur-Environment "Wenn die Landschaft aufhört"[1]
Konzept: Dieter Sperl, Paul Pechmann

 
Sie fragen, ob die Kontroll- oder Kommunikationsgesellschaften nicht Formen von Widerstand hervorbringen werden, die einem Kommunismus wieder Chancen geben könnten, verstanden als "freie Assoziierung freier Individuen". Ich weiß nicht, vielleicht. Aber nicht weil die Minoritäten das Wort ergreifen können. Vielleicht sind Wort und Kommunikation verdorben. Sie sind völlig vom Geld durchdrungen: nicht zufällig, sondern ihrem Wesen nach. Eine Abwendung vom Wort ist nötig. Schöpferisch sein ist stets etwas anderes gewesen als kommunizieren. Das Wichtige wird vielleicht sein, leere Zwischenräume der Nicht-Kommunikation zu schaffen, störende Unterbrechungen, um der Kontrolle zu entgehen. [2]


In bezug auf computergenuine Literaturformen und Präsentationsweisen gilt unser Interesse jenen poetischen Praktiken, deren konzeptuelle Grundlegung dem durch das neue Medium veränderten Textbegriff Rechnung trägt und die das medienspezifische Statut des Textes als produktionsästhetische Kategorie zur Entfaltung bringen sowie dieses zugleich auch reflektieren: auf der Folie der Transformationen von Autor, Leser und deren Relation, den Wahrnehmungs- und Reflexionsweisen von aktueller (neu-medialer) Wirklichkeit und des sich darauf beziehenden theoretischen Diskurses. Den engeren Bezugsrahmen für die eigene Positionierung und für die Konzeptgenese bildeten weniger Fragen nach der chiptechnischen Machbarkeit bislang noch nicht erdachter oder realisierter textueller Inszenierungen, auch nicht primär solche nach dem Verlauf der derzeit im Cyberspace stattfindenden Experimente mit, bzw. Erkundungen nach den computer- oder netzadäquaten Schreibhaltungen und -praktiken. Das Experimentierfeld für unser das "neue" Medium im Produktionsprozeß selbst thematisierendes Text-Environment wollen wir durch die Fokussierung auf die medienspezifischen Transformationen einer textuellen Kategorie definieren, um gerade durch diese Selektion einen Ereignisraum mit sich auf vielfache und vielfältige Weise öffnenden Präsentationsflächen zu schaffen.
Während der gedruckte (oder anderswie fixierte, auch nicht lineare, z.B. collagierte) Text ein einziges (Makro)Syntagma (oder nur eine geringe Anzahl an Sequentierungsmöglichkeiten) aktualisiert, ermöglicht eine freie Verknüpfungspraxis von einer Anzahl n von Textsequenzen n! syntaktische Kombinationsmöglichkeiten - und somit ebensoviele Lesarten eines im Verhältnis dazu verschwindend kleinen Samples von Textpartikeln. Der Übertragung dieser oder ähnlicher Gesetzmäßigkeiten von Zahlen auf poetische Konzepte verdankt sich die Erfindung einer Reihe von literarischen Kombinatoriken, verwirklichten und virtuellen Poesiemaschinen oder Maschinentexten quer durch verschiedene Literaturgeschichten. Sie alle scheinen den Zufall zum poetischen Kalkül zu erheben, ob in Gang gesetzt als zeilenweise blätterbares Buch (R. Queneau)[3] oder als frei mischbarer Satz von Karten (M. Saporta)[4]. Auf exzentrische Weise thematisieren sie die Bedingungen ihres Speichermediums und beziehen daraus ihre poetische Kraft. Diese geht verloren, verwendet man ihre Verfahren für eine vom Chip in Antrieb gesetzte Textmaschine[5]; wendet man hingegen das solchen Büchern zugrundeliegende Prinzip und überträgt nun dieses andere auf den Chip, verfährt man im Sinn von deren "Konstrukteuren" und setzt neue poetische Wirkungspotentiale frei.
Als Textbasis für unser Environment dient die Prosa "Wenn die Landschaft aufhört" von Dieter Sperl. Mit dieser wird eine für unsere Zwecke designte Anwendung gespeist. Sperls Text setzt sich aus 45 interpunktionslosen, miteinander in jeder beliebigen Folge kombinierbaren Textsequenzen zusammen; diese werden in Form von Textbausteinen, die durch einen Zufallsgenerator in stets anderer Reihenfolge zu immer neuen Fließtexten "gesampelt". Eine Protokolldatei registriert die bereits realisierten Kombinationen; diese scheiden für den weiteren Verlauf aus.
Während der gesamten Dauer der Ausstellung werden die sich neu aktualisierenden Bausteinkombinationen als in Bewegung befindlicher Textfluß am Schirm/im Raum projiziert. Im gleitenden Scroll-Modus präsentiert sich die fortwährende maschinenpoetische Schreib- bzw. Lesebewegung, setzt den jeweiligen Text, der nur im Arbeitsspeicher existiert, seinem Ereignis aus: Der Besucher, registrierender Leser, eine Laufschrift-Animation.
Einen allgemeinen Zugriff auf die Textsamples und das Programm der Textmaschine bietet die Web-Präsentation unseres Projekts; für eine beschränkte Anzahl von Besuchern der Ausstellung (und zwar für jeden hundertsten - dieser Anteil entspricht nach aktuellerem Mikrozensus in etwa dem Anteil der österreichischen Bevölkerung, der sich für Gegenwartsliteratur interessiert[6]) wird jeweils ein "individuelles" Sampling als Buch gedruckt.

Paul Pechmann


    [1]   Prosa von Dieter Sperl, 1999.
    [2]   Gilles Deleuze: Kontrolle und Werden [Gespräch mit Toni Negri], S. 252. In: G.D.: Unterhandlungen. 1972-1990. Aus d. Franz. v. Gustav Roßler. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993. (= es. 1778. NF. 778.) S. 243-253.
    [3]   Raymond Queneau: Cent mille milliards de poèmes. Postface de Francois Le Lionnais. Paris: Gallimard 1961. [dt.: Hunderttausend Milliarden Gedichte. 2. Aufl. Frankfurt/M.: Zweitausendeins 1984.] ist eine Poesiemaschine in Gestalt eines Buches, in dem jede einzelne Zeile für sich umgeblättert werden kann. Durch diesen Kunstgriff enthält das Buch das Potential für die genannte Zahl von Sonetten.
    [4]   Marc Saporta: Composition n° 1. roman. Paris 1962. (Saportas "Roman" setzt sich aus 150 Textkarten zusammen, die beliebig gemischt werden können, wobei die Geschichte einer jeden einzelnen mit der von allen anderen verknüpfbar ist.)
    [5]   Queneaus Sonett-Maschine findet sich als Computerprogramm realisiert unter folgenden locations: http://cuiwww.unige.ch/java/exemples/a26/index.html und http://berlin.icf.de/~inscape/queneau_poems/queneau_poemes.html
    [6]   Vgl. Klaus Zeyringer: Innerlichkeit und Öffentlichkeit. Österreichische Literatur der achtziger Jahre. Tübingen: Francke 1992, S. 38.



Zur Software "Wenn die Landschaft aufhört"
Software-Entwicklung: Helmut Leitner

Zum ursprünglichen Konzept der Künstler gehörte es auch, den Sourcecode für das verwendete JAVA-Programm zu veröffentlichen. Diesem Wunsch komme ich hiermit nach: Sourcecode.

Das Programm ist in Java geschrieben und verhindert das Auftreten von Doubletten innerhalb einer Produktion durch Verwendung einer Hash-Tabelle. Sie implementiert das, was im Konzept der Künstler als "Protokolldatei" bezeichnet wurde. Zum Glück ist das in Java mit wenigen Befehlen möglich.
Aufwendiger sind jene Programmteile, die sich mit dem Zeilenumbruch und mit der möglichst weichen Anzeige des Lauftextes am Bildschirm beschäftigen.
Eine weitergehende Beschreibung erscheint mir nicht sinnvoll; dem interessierten Laien würde sie den Einstieg in die Programmiersprache Java nicht ermöglichen, dem geübten Software-Entwickler genügen die in den Sourcecode eingestreuten Kommentare. Bei Bedarf bin ich gerne bereit via e-mail über das eine oder andere Detail Auskunft zu geben.

Helmut Leitner


Homepage  Kontakt  E-Mail